Montag, 28. September 2009

Hamburger Qualitätsblatt

In den vergangenen Monaten, spätestens seit dem Relaunch der Online-Version, lässt sich bei der Lektüre des Hamburger Abendblatts das unangenehme Gefühl eines qualitativen Verfalls hin zu einem weniger subtilen Boulevardjournalismus immer weniger verdrängen - ohne damit sagen zu wollen, dass das Abendblatt je mit überzeugender Brillanz zu glänzen gewusst hätte. Die Ursache hierfür liegt dabei gar nicht am modischen Webauftritt - die Welt z.B. hat den Relaunch früher gemacht, zugegeben etwas weniger Web2.0 gewagt, leidet jedoch nicht annähernd so sehr an dem Phänomen - sondern ist vielmehr inhaltlicher Natur:
Reißerische Titel wie ganz aktuell "So hat Ihr Nachbar gewählt!" oder Auf der Schanze regiert die Angst und selbst (einem journalistischem Hilferuf gleich) regelmäßige Babyfotos zeigen die Richtung an, aus der neue Leserinnen geworben und in die es dafür gehen soll.

Geschenkt, dass auf jeder Seite der Link zum Singlebörsenpartner an mehreren Stellen teilweise groß aufgemacht als Inhalt feilgeboten wird - schließlich muss auch Springer verzweifelt versuchen, die Online Version zu monetarisieren - oder dass seit sage und schreibe mehr als acht Wochen unter der Rubrik "Leben in Hamburg" der Pulitzerpreis-verdächte Recherchekracher Neun gesunde Gründe für wirklich guten Sex zu bestaunen ist. Ebenfalls spare ich mir weitere Kommentare zu den verlinkten "Advertorials" - ja, es gibt tatsächlich Menschen, die sich nicht scheuen solche Begriffe zu verwenden - denn immerhin ist ja der Name hier Programm. Das mit dem "Anzeige ist als solche kenntlich zu machen und vom redaktionellen Inhalt zu trennen" zieht sich nämlich durchaus nicht durch das ganze Angebot der Zeitung, ein Blick auf die stets beworbenen "KFZ-Tipps der Woche" z.B. führt im Artikel-Link-Grün über den hauseigenen Adserver direkt zum Werbepartner. Und es gibt überhaupt wenig Ressorts ohne Unterrubrik mit gewinnträchtigen Partnerprogrammen: unter Home allein beispielsweise gleich "Stellenangebote", "Partnersuche" und(!) "Singles". Vielleicht bin ich da auch nach langjähriger Adblocknutzung einfach nur zu sensibel.

Das viel störender boulevardesque beim Abendblatt 2.0 jedoch fällt beim Lesen eines jeden Artikels ins Auge: Immer mindestens zwei der Bildershows rechts sind kontextfreie Stars- und Tittenteaser, die zu Bilderstrecken von höchstem qualitätsjournalistischen Anspruch wie Üppige Kurven im Wüstensand, dem wochenlangen Topthema Michaela Schaffrath klagt auf Schadenersatz oder dem Klassiker der immer geht und auch beim Abendblatt sehr lange sehr gut ging, Heisse-Bademoden, locken. Wieso heute noch ein einzelnes Pinup-Girl für die Startseite wenn diverse Makroaufnahmen leicht verhüllter weiblicher Geschlechtsmerkmale über das gesamte Webangebot die Zielgruppe viel besser ansprechen können?

Interessant bei Abendblatt.de: Ein lang gehegtes Vorurteil über die (politische) Gewichtung lässt sich aber immerhin über die neue Onlinetechnologie überprüfen und festhalten. Heikle Artikel zum Thema CDU beispielsweise genießen eine deutlich höhere Priotität, gleiches gilt aber auch zum Arbeitsfeld, das mit "Linke Gewaltchaoten" grob umrissen werden könnte: Da Artikel schnell online verfügbar sein müssen, lässt sich anhand der deutlichen inhaltlichen Veränderungen am Titel und dem Inhalt gut ablesen wieviel Wert darauf gelegt wird und in welcher Eile geschrieben werden muss. Wider Erwarten ist der Effekt bei Eilmeldungen weniger ausgeprägt als bei genannten Themenfeldern, was den Schluss zur entsprechenden Gewichtung nahelegt.
Eine Kostprobe z.B. zum für die Kanzelerin unmittelbar vor der Bundestagswahl sehr unangenehmen Auftritt mit dem "und alle so: yeah"-Flashmob:
Aus dem recht allgemeinen Titel "Flashmob bei Wahlkampfveranstaltungen" wurde über den Umweg "Flashmob in Hamburg" zunächst "Flashmob in Hamburg - Kanzlerin blieb cool" und schließlich "Smartmob in Hamburg - Kanzlerin blieb cool". Aus dem selben Artikel bei dem Angela Merkel erst schlecht da stand, wurde am Ende einer, bei dem sie cool selbst gegenüber einem smarten Mob da stand. Eine solche Gewichtung beim HA überascht jetzt natürlich ganz und gar nicht, aber das Live-Beobachten von inhaltlichen Korrekturen könnte nebenbei erwähnt ein ganz interessantes Forschungsthema abgeben.



Einen guten Humor beweist die Redaktion aber immerhin: Im Ressort Politik bietet das Hamburger Abendblatt genau drei Unterrubriken: Deutschland, Ausland und Schweinegrippe.


Update:
Das Abendblatt will sich hauseigenen Qualitätsjournalismus (Selbstbezeichnung) dem Leser etwas kosten lassen

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